Emotionen, Migration und die Rolle des Journalismus

Das Gefühl von Traurigkeit, Wut und Angst oder aber auch Hoffnung, Erleichterung und Freude beim Schauen der Nachrichten kennen wahrscheinlich einige Menschen. Wenngleich viele gelernt haben, dass der Journalismus neutral sein muss und eine bestimmte Distanz zu den Geschehnissen, über die er berichtet, wahren sollte, treten diese Emotionen bei den Zuschauenden doch immer wieder auf. Deswegen erklärt Dr. Débora Medeiros, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Sonderforschungsbereich Affective Societies an der Freien Universität Berlin, wie es dazu kommen kann, dass Menschen während des Nachrichtenschauens etwas fühlen und welche Rolle der Journalismus dabei spielt.

Journalismus und seine Ordnung der Emotionen

Seit 2019 forscht Débora gemeinsam mit den Wissenschaftlerinnen Ana Makhashvili und Margreth Lünenborg im Projekt Journalismus und seine Ordnung der Emotionen daran, wie der Journalismus Ereignisse für das Publikum auch emotional einordnet. Das Projekt geht von der Prämisse aus, dass eine emotionale Einordnung kein bewusster Manipulationsversuch vonseiten des Journalismus ist. Sie ist vielmehr eine weitere Seite seiner sozialen Funktion, Menschen zu informieren. Emotionen sind nun mal Teil der Realität: Sie spielen eine Rolle bei politischen Entscheidungen, in sozialen Bewegungen und in Interaktionen im Alltag. Also müssen Journalist:innen Emotionen auch in ihren Beiträgen darstellen und einordnen.

Besonders bei dramatischen Ereignissen oder bei Fragen großer gesellschaftlicher Relevanz werden Emotionen so in der Berichterstattung sichtbar. Das ist auch der Fall für das Themenfeld „Flucht und Migration“, welches im Rahmen des Forschungsprojekts genauer analysiert wird und das häufig in den Nachrichten vorkommt, wenn unerwartete Ereignisse, wie beispielsweise Kriege oder rechtsextremer Terror, stattfinden oder die Gesellschaft grundsätzliche Debatten führt. Dabei werden Fragen der Zugehörigkeit, Gesetze und des Schutzes ethnischer Minderheiten diskutiert.

Was genau wurde untersucht?

Um ein bestmögliches Verständnis für den Zusammenhang von Emotionen, Migration und Journalismus entwickeln zu können, wurde eine qualitative Videoanalyse (Eder, 2017; Mikos, 2015) von journalistischen Beiträgen über neun unterschiedliche Ereignisse durchgeführt. Da die Migrationsgeschichte in Deutschland sehr bewegt ist, wäre es unmöglich gewesen, die Berichterstattung über alles, was in den letzten Jahrzehnten passiert ist, zu untersuchen. Also musste eine Auswahl getroffen werden. Dazu wurden einige Kriterien bestimmt, welche die Entscheidung geleitet haben:

Historisches EreignisUntersuchungszeitraum
1992, Rostock-Lichtenhagen22. – 29. August
1993, Grundgesetzänderung §16a16. Mai – 6. Juni
2005, Mord an Hatun Sürücü7. – 14. Februar
2010, Christian Wulffs Rede „Der Islam gehört zu Deutschland“3. – 10. Oktober
2011, Selbstenttarnung der NSU4. – 11. November
2015, Marsch der Geflüchteten von Ungarn bis nach Deutschland4. – 11. September
2015/2016, Kölner Silvesternacht1. – 6. Januar
2018, Chemnitz-Ausschreitungen26. August – 4. September
2020, Rechtsextremistischer Anschlag in Hanau19. – 26. Februar
Liste der untersuchten Ereignisse

Erstens mussten es Ereignisse sein, über die nationale und nicht nur regionale Medien berichtet haben. Zweitens mussten diese Ereignisse von unterschiedlichen Akteur:innen initiiert werden. Es sollten nicht nur Beiträge über rechten Terror oder über Impulse aus der Politik vertreten sein. Drittens war es wichtig, sowohl unerwartete Ereignisse, die man vorher nicht kommen sah, als auch angekündigte Ereignisse, wie beispielsweise Gesetzesänderungen, zu untersuchen. Dabei wurde sich auf die folgenden Sendungen fokussiert: Tagesschau, Tagesthemen, Panorama, Brennpunkt, Zapp, Monitor und Kontraste. Außerdem wurde ein Zeitraum von sieben Tagen, seitdem das Ereignis stattfand, festgelegt.

Welche Perspektive wurde gewählt?

Da es um emotionale Interpretationen in audiovisuellen Beiträgen ging, war das Konzept von affizierenden Registern (Lünenborg et al., 2021; Töpper, 2021) zentral für die Analyse. Es beschreibt das Zusammenspiel von einzelnen diskursiven, narrativen und ästhetischen Mitteln eines audiovisuellen Inhalts, also beispielsweise eines Videos. Durch dieses Zusammenspiel können dem Publikum bestimmte Emotionen und Affekte vermittelt werden und das nicht nur auf eine bewusste Weise, sondern auch auf einer körperlichen Ebene. 

Klingt kompliziert? Sie haben bestimmt schon einmal Gänsehaut oder ein pochendes Herz bei einer gruseligen Szene in einem Film bekommen, oder? Wenn man diese durch die Brille der affizierenden Register betrachtet, kann man das Zusammenspiel von Elementen bei der Entstehung dieser körperlichen Reaktionen genauer beschreiben. Da wären die Musik und andere Geräusche, die einen schon ahnen lassen, dass etwas Schlimmes passieren wird. Die Sicht der Hauptfigur wird durch Nahaufnahmen und die Kameraperspektiven vermittelt und die Dialoge geben weitere Hinweise auf das kommende Unheil.

Dabei beschreiben affizierende Register jedoch nicht die Reaktionen aller Zuschauenden. Die Perspektive bietet viel mehr eine Interpretationsmöglichkeit, die durch den Film angeboten wird. Ob man sich tatsächlich gruselt oder die Szene zum Beispiel wegen ihrer Klischees lächerlich findet, hängt auch mit individuellen Perspektiven und Erfahrungen zusammen.

Was heißt das nun für journalistische Beiträge? Am Beispiel der Fernsehberichterstattung über den rechtsextremen Anschlag in Hanau 2020 kann konkret gezeigt werden, wie Journalismus emotionale Interpretationen von Schlüsselereignissen liefern kann. Wie schon am Gruselszenen-Beispiel verdeutlicht, bedeutet das nicht, dass alle, die den Beitrag schauen, genau diese Emotionen empfinden werden. Es geht in der Analyse dieser audiovisuellen Inhalte vielmehr darum, die angebotene emotionale Interpretation sichtbar zu machen.

Rechtsterroristischer Anschlag in Hanau

Am 19. Februar 2020 stürmte ein bewaffneter Rechtsextremer drei Lokale in Hanau. Die Läden waren unter Deutschen mit Migrationsgeschichte und migrantischen Bewohnern:innen der Stadt beliebt. Der Terrorist erschoss neun Menschen und verletzte fünf weitere. Danach fuhr er nach Hause und tötete seine Mutter und sich selbst. Das Bundeskriminalamt stufte den Anschlag als rechtsextrem und rassistisch ein.

Die Analyse der Fernsehberichterstattung während der ersten Wochen nach diesem Terrorakt hat ergeben, dass vornehmlich ein affizierendes Register der nationalen Trauer in den journalistischen Beiträgen präsent war. Was ist damit gemeint?

Zum einen wurde Deutschland in den untersuchten Beiträgen oft als ein Land beschrieben, das trauert, empört oder erschüttert ist. So wurde dieser Ort auf eine Art und Weise vermenschlicht und ihm wurden Emotionen zugeschrieben. Das heißt in der Forschung diskursiver Körper (Berg et al., 2019). So hat zum Beispiel der Moderator Jan Hofer den Beitrag am Tag nach dem Anschlag mit folgenden Worten eingeführt: „Deutschland ist durch einen weiteren mutmaßlichen rechtsterroristischen Anschlag erschüttert worden“ (Tagesschau, 2020a, 00:00:36–00:00:42). Gemeint waren natürlich eher die Menschen, die in Deutschland leben und denen diese Emotionen kollektiv zugeschrieben wurden.

Das wurde auch durch Wir-Statements aus der Politik verstärkt, wie zum Beispiel in der Rede des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier während einer Mahnwache in Hanau: „Wir stehen als Gesellschaft zusammen. Wir lassen uns nicht einschüchtern. Wir laufen nicht auseinander. Wir trauern. Wir trauern, wir nehmen Anteil und wir sehen, dass wir eins sind in unserer Trauer und einig gegen Hass, Rassismus und Gewalt“ (Tagesschau, 2020a, 00:01:27–00:01:52).

Der Ausschnitt des Videos zeigt auch gut, wie Gestaltungsmittel, das heißt Schnitte, Kameraeinstellung und Ton, in dem affizierenden Register der nationalen Trauer eingesetzt werden. In diesem und in anderen Beiträgen können deutlich die Geräusche der Kundgebung gehört werden: das Klatschen, das Stimmengewirr. Auch die Reaktionen der Menschen vor Ort auf die Rede werden kurz gezeigt, als die Kamera sie beim Applaudieren und Zuhören aufnimmt. Man kann sowohl die Gesichtsausdrücke dieser Menschen als auch denjenigen Steinmeiers durch relativ nahe Aufnahmen gut erkennen. Durch dieses Gestaltungsmittel können sich Zuschauende auch als Teil dieser trauernden Gemeinschaft fühlen, die sich auf den Straßen Hanaus und in vielen weiteren Städten versammelt hat.

Die trauernde Nation wurde auch durch gemeinsame Gesten der Trauer dargestellt. Die analysierten Beiträge zeigen sowohl politische Akteur:innen als auch Bürger:innen bei den Mahnwachen. Ein Beispiel aus der Sendung Brennpunkt macht dies besonders deutlich: In dem Beitrag werden sowohl Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier als auch Bürger:innen in Hanau bei dem Halten einer Mahnwache, dem Niederlegen von Kränzen und dem Anzünden von Kerzen filmisch begleitet (Brennpunkt, 2020, 00:00:45–00:01:09).

Welche Rolle spielen Emotionen im Journalismus?

Dieses und andere affizierende Register in journalistischen Beiträgen unterscheiden sich von denen in fiktionalen Filmen oder Serien und zwar in einer grundlegenden Sache: Sie speisen sich aus Situationen, die wirklich stattgefunden haben. So versuchen Journalist:innen, die Stimmung vor Ort für das Publikum zuhause auch emotional erfahrbar zu machen. Sie erfinden keine Situationen, denn die Mahnmachen oder der Anschlag selbst haben tatsächlich stattgefunden. Gleichzeitig werden in der Berichterstattung natürlich Elemente bewusst oder unbewusst gewählt, mehr oder weniger prominent platziert oder gänzlich weggelassen.

Emotionen sind also ein normaler Bestandteil der Berichterstattung über aktuelle Ereignisse. Dabei versucht der Journalismus auch durch eine emotionale Einordnung der Ereignisse seine soziale Funktion zu erfüllen, Menschen zu informieren und dadurch dazu beizutragen, eine fundiertere Haltung zu entwickeln und politische Entscheidung treffen zu können.

Im Fall von Hanau haben allerdings unterschiedliche migrantische Stimmen diesem in der Berichterstattung dominanten affizierenden Register der nationalen Trauer widersprochen oder sie haben spezifische Aspekte hervorgehoben, die in der Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft nicht so präsent waren. Der Präsident des Zentralrats der Muslime in Deutschland hat zum Beispiel einen Vertrauensverlust in seiner Gemeinschaft gegenüber dem deutschen Staat beschrieben (Tagesschau, 2020b, 00:02:47–00:03:05). Nach dem Anschlag würde es vielen Menschen schwerfallen, daran zu glauben, dass der Staat marginalisierte Gruppen vor rechtem Terror schützen kann.

Wollen Sie noch mehr erfahren?

Wenn Sie mehr über die Nuancen von affizierenden Registern in der Berichterstattung über den Anschlag in Hanau erfahren möchten, können Sie gern die Studie United in Grief? Emotional Communities Around the Far-Right Terror Attack in Hanau on TV and Twitter lesen (Medeiros & Makhashvili, 2022). Dort wird auch analysiert, wie Nutzer:innen sozialer Medien die emotionalen Interpretationen durch den Journalismus kritisiert oder ergänzt haben. Der Artikel ist online für alle frei zugänglich.

Quellen

Ausschnitt aus Babylon Berlin. (00:03:17–00:03:54). X Filme Creative Pool/Beta Film/Sky Deutschland/Degeto Film (alle Rechte vorbehalten). Ausschnitt zugänglich auf: https://www.youtube.com/watch?v=RKmCvsQ4oHg

Berg, A. L., von Scheve, C., Ural, N. Y., & Walter-Jochum, R. (2019). Reading for affect: A methodological proposal for analyzing affective dynamics in discourse. In A. Kahl (Hrsg.), Analyzing affective societies: Methods and methodologies (S. 46–62). Routledge.

Bild. (00:05:22–00:05:50). Verwendung mit freundlicher Genehmigung von Marcus Kaufhold: visueller-journalismus.de

Brennpunk. (2020, 20. Februar). Brennpunkt – Anschlag in Hanau [Fernsehsendung]. ARD.

Eder, J. (2017). Empathie und existentielle Gefühle im Film. In M. Hagener & Í. Vendrell Ferran (Hrsg.), Empathie im Film: Perspektiven der Ästhetischen Theorie, Phänomenologie und Analytischen Philosophie (S. 237–269). transcript.

Lünenborg, M., Töpper, C., Suna, L., & Maier, T. (2021). Affektive Medienpraktiken: Emotionen, Körper, Zugehörigkeiten im Reality TV. Springer VS.

Medeiros, D., & Makhashvili, A. (2022). United in grief? Emotional communities around the far-right terror attack in Hanau on TV and Twitter. Media and Communication, Cogitatio, 10(3). https://doi.org/10.17645/mac.v10i3.5438

Mikos, L. (2015). Film- und Fernsehanalyse (3rd ed.). UVK Verlagsgesellschaft.

Töpper, C. (2021). Mediale Affektökonomie: Emotionen im Reality TV und deren Kommentierung bei Facebook. transcript.

Tagesschau. (2020a, 20. Februar). Tagesschau 20 Uhr [Fernsehsendung]. ARD. https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-35769.html

Tagesschau. (2020b, 21. Februar). Tagesschau 20 Uhr [Fernsehsendung]. ARD. https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/ts-35789.html